In der letzten Woche hat die zuständige
Rentenversicherung eine sogenannte Visitation in unserer Fachklinik für
Suchtkranke durchgeführt. Es handelt sich schlicht um eine Überprüfung von
Kliniken nach den von den Rentenversicherungs-Trägern festgesetzten
Gütekriterien. Wir hatten eigentlich Glück. Denn fast alles, was geprüft wurde,
stellte die Mitglieder der Visitationskommission zufrieden: Therapeutische
Angebote, Ausstattung der Klinik, Zufriedenheit der Patienten. Zumal wir ja
ohnehin eine der wenigen kleineren Kliniken sind, die sogar von der
anspruchsvollsten Rentenversicherung, der DRV Bund (ehemals BfA), belegt
werden.
Ein Manko fanden sie dann aber
doch: Die Laufzeit unserer Entlassungsberichte (also die Anzahl an Tagen, die
nach der Entlassung eines Patienten bis zum Eintreffen des Berichts bei der
Rentenversicherung vergeht) betrug während des geprüften Zeitraums durchschnittlich
17 Tage. Die Vorgabe der DRV beträgt aber nur 14 Tage. Dies stellt nun wieder
eine Neuerung dar. Denn bislang wurde geschaut, wie viele Berichte innerhalb
der 14 Tage eintreffen und wie viele erst später. Wenn ausreichend viele innerhalb
dieser Zeitvorgabe lagen, war das OK. Nimmt man jedoch, und das ist das Neue,
die Durchschnittslaufzeit sämtlicher Berichte zusammen, können wenige „Ausrutscher“
das Durchschnittsergebnis verschlechtern.
Und jetzt kommt noch der Hammer:
Die Kommission drohte uns, trotz sehr guter sonstiger Bedingungen, tatsächlich
an, dass unsere Klinik nicht mehr belegt werde, wenn sich die Berichtslaufzeit
nicht bessere. Dabei war die Qualität der Berichte uninteressant, Schnelligkeit
ist jetzt oberstes Gebot.
Uuups, dachte ich spontan, wenn
jetzt ein Patient vorzeitig entlassen wird oder seine Behandlung abbricht, muss
ich wohl besser ein paar Einzelgespräche ausfallen lassen, damit der Bericht
pünktlich fertig wird (denn die Entlassungsberichte in der Sucht-Reha sind sehr
umfangreich und bedeuten mehrere Stunden Arbeit). OK, der gemessene Zeitraum
war dummerweise ein ungünstiger, unsere Berichtslaufzeit liegt bereits wieder
im geforderten Rahmen. Dennoch sehe ich hier ein weiteres Beispiel, wie
bürokratische Vorgaben sich zulasten der Patienten auswirken können. Zumal der
Anteil meiner Gesamtarbeitszeit, die ich tatsächlich mit Patienten arbeite,
ohnehin höchstens noch 30% ausmacht, der „Rest“ ist Administration.
Es ist für mich aber
auch ein weiteres Argument für die notwendige stärkere Unterstützung der Selbstbestimmung
von Patienten. Die wird nämlich von den Rentenversicherern schon seit Langem
mit Füßen getreten. Denn gemäß §9 SGB IX soll „bei der Entscheidung über die
Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen … (den) berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen“
werden. Und gemäß §17 SGB IX ist sogar ein „Persönliches Budget“ für die
Patienten möglich, indem sie u.a. einen „Geldscheck“ erhalten, mit welchem sie über
die Form der erforderlichen Leistung weitgehend selbst entscheiden können. Der
Gesetzgeber fordert hiermit klar ein hohes Maß an Selbstbestimmung der
Betroffenen.
Soweit die Theorie. Da
jedoch gerade Suchtpatienten, wenn sie denn endlich an dem Punkt sind, da es
ohne professionelle Hilfe nicht mehr geht, in der Regel nicht mehr in der
Verfassung sind, sich mit ihrer Rentenversicherung über Art und Dauer ihrer
Behandlung auseinanderzusetzen, sagen sie regelmäßig auch ja zu allem, was
ihnen vorgesetzt wird, und die DRV entscheidet weitgehend allein, durch wen und
wie ihr Versicherter therapiert wird. Vor diesem Hintergrund könnte jetzt sogar
von Missbrauch abhängiger Menschen durch ihre Rentenversicherer die Rede sein, indem
Letztere ihre Machtposition auch zulasten der Ersteren ausbauen. Dabei können
die DRVen vor rechtlichen Schritten noch recht sicher sein. Die betroffenen Patienten
sind zu schwach um zu klagen, die Kliniken können das nicht, weil sie rechtlich
nicht betroffen sind, und die Suchtfachverbände hüten sich vor Kritik, da sie befürchten,
dass die ihnen angeschlossenen Kliniken sonst Belegungsnachteile bekommen
könnten.
Dies scheint mit daher
auch ein weiteres Beispiel dafür zu sein, wie der Gesetzgeber gut gemeinte Absichten
per Gesetz vorgibt, deren praktische Umsetzung jedoch nicht zulänglich regelt. Dies
trifft auf wichtige Teile des SGB IX sowie auf das (an anderer Stelle erwähnte)
Betriebsverfassungsgesetz zu. Jedes Mal triumphieren gesellschaftliche Machtstrukturen
über gesetzliche Vorgaben.
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