9. Sozialgesetzbuch: Der Widerspruch von Theorie und
Praxis
In einem früheren Beitrag hatte ich darauf aufmerksam
gemacht, dass ein im § 17 SGB IX für Menschen mit Behinderung postuliertes
Recht auf ein persönliches Budget zumindest für suchtkranke Patienten nicht umgesetzt
wird. In dieser Auseinandersetzung soll es nun um ein weiteres in der Praxis
nicht umgesetztes Recht behinderter Menschen gehen, zu denen auch Suchtkranke
gezählt werden.
Den Anlass gab ein Besuch eines Reha-Beraters der
Deutschen Rentenversicherung in der Klinik, in welcher ich beschäftigt bin. Einer
meiner Patienten wurde zunächst von diesem Berater über die Möglichkeiten der beruflichen
Wiedereingliederung nach Abschluss seiner Behandlung informiert. Schließlich
sollte der Patient einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bei
seiner Rentenversicherung stellen. (Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben werden eingesetzt, wenn Versicherte auf Grund
einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ihren Beruf nicht weiter ausüben können
und wenn gleichzeitig die Chance besteht, nach Einarbeitung auf einem anderen
Arbeitsplatz oder nach Umschulung in einem anderen Beruf auf Dauer arbeiten zu
können.) Dabei wurde dieser Patient aber auch darauf hingewiesen, dass sein
Antrag erst nach Abschluss seiner Suchtbehandlung auf der Grundlage des
Entlassungsberichts der behandelnden Klinik geprüft werden könne, er sich also
bis zum Beginn einer arbeitssichernden Maßnahme eine gewisse Zeit werde gedulden
müssen.
Genau dieser Umstand (die zeitliche Verzögerung zwischen
zwei oder mehreren Maßnahmen) ist jedoch vom Gesetzgeber gerade nicht
intendiert gewesen. Man war sich nämlich bei Verabschiedung des Gesetzbuches
(SGB IX) bewusst, wie wichtig ein nahtloses Ineinandergreifen erforderlicher
Maßnahmen für das Gelingen des gesamten Hilfepakets ist. Dass z.B. ein Alkoholiker
nach erfolgreicher Entwöhnung von seiner Sucht womöglich ein ganzes Jahr warten
muss, bis seine Berufsperspektive geklärt ist, stellt eine eklatante Gefährdung
des Behandlungsergebnisses dar.
Um genau dieser Gefahr entgegenzuwirken, wird in § 10 SGB
IX vom zuständigen Rehabilitationsträger verlangt, dass er für ein nahtloses
Ineinandergreifen der erforderlichen Reha-Maßnahmen Sorge trägt. Diesem
Gedanken folgend wird im nächsten Paragrafen (§ 11 SGB IX) vom
Rehabilitationsträger auch verlangt, dass er bereits bei „Einleitung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation,“ und
danach auch „während ihrer Ausführung und
nach ihrem Abschluss,“ prüft, „ob
durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben die Erwerbsfähigkeit
des behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen erhalten, gebessert
oder wiederhergestellt werden kann.“ Und weiter heißt es im selben
Paragrafen: „Er beteiligt die
Bundesagentur für Arbeit.“
Dieses Gesetzbuch wurde 2001 bereits verabschiedet, doch
leider stelle ich immer wieder fest, dass die Deutsche Rentenversicherung es in
den beschriebenen Punkten nicht umsetzt. Ebenso verhält sich in der Regel die
Arbeitsagentur, wenn sie sich weigert, unsere Patienten bereits während ihrer
Behandlung über weitere berufliche Schritte zu beraten. Natürlich würde ein
gesetzeskonformes Prozedere mehr Arbeit nach sich ziehen, da so mancher Suchtpatient
nach Abschluss seiner Entwöhnungsbehandlung seinen Antrag auf weitere
Leistungen nicht mehr aufrechterhält. Entweder ist er schlicht rückfällig
geworden oder er ist des Wartens müde und arbeitet halt erneut in einer
Tätigkeit, die seine Gesundheit weiter beeinträchtigt. Deshalb sehe ich den
Gesetzgeber bzw. das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales in
der Pflicht, bei den Rentenversicherern auf eine dem Geist des SGB IX entsprechende
Umsetzung des Gesetzes hinzuwirken.